Die KiTa Nortorf ist eine Heilpädagogische Integrationseinrichtung, in der Kinder mit und ohne speziellen Förderbedarf gemeinsam die Welt entdecken und dabei voneinander lernen. Das hochindividuelle, flexible und deswegen personalintensive Betreuungskonzept unterstützt zum Beispiel die positive Entwicklung von Kindern, die mit Beeinträchtigungen im Bereich der Wahrnehmung zu kämpfen haben. Wie der sechsjährige Jonte, der nach einer Phase der sozialen Überforderung im Regelkindergarten hier mittlerweile nicht nur Freundschaften knüpft, sondern auch Autokennzeichen kennt wie kein Zweiter.
„Zisch! Wusch! Peng!“ Geduckt sausen zwei laufende Meter zwischen unseren Beinen herum. Hinten in die Halsausschnitte ihrer T-Shirts haben sie lange Papprollen gesteckt, die wie Antennen über ihre Köpfe hinausragen. „Pfffsch!!“, kommt noch ein dritter um die Ecke geflitzt. „Wahrscheinlich Raketen“, lächelt Mareike Horstmann. Wir gehen über die Flure der KiTa Nortorf, einer Heilpädagogischen Integrationseinrichtung, die auch ihr Sohn Jonte besucht. Am Haupteingang hat uns ein Wegweiser die Richtung vorgegeben: Zu Bären und Löwen geht’s nach rechts. Biegt man links ab, gelangt man nicht nur zu Igeln, Fröschen und Katzen, sondern auch zu unserem Ziel: den Gespenstern.
Acht Gruppen mit insgesamt rund 100 Kindern werden hier von Fachkräften aus den Bereichen Erziehung sowie Heil- und Inklusionspädagogik betreut: zwei Krippengruppen, eine Tagesgruppe und fünf integrativ arbeitende Elementargruppen. Jede der Elementargruppen ist räumlich so strukturiert wie ein eigener kleiner Kindergarten: mit Spiel- und Rückzugsräumen, eigenem Badbereich und sogar mit einer eigenen Küche. Das Besondere: Kinder mit und ohne speziellen Förderbedarf verbringen ihren Alltag hier zusammen, spielen gemeinsam und lernen voneinander. Gegründet wurde die KiTa Nortorf im Jahr 1986 und erhielt als damals erste und einzige Einrichtung in Schleswig-Holstein die gleichzeitige Anerkennung als Regel- und Sonderkindergarten.
Als wir in den Räumen der Gespenster-Gruppe ankommen, ist Jonte schon auf Betriebstemperatur. „Sag mal ein Autokennzeichen, das du nicht weißt“, ruft er aufgeregt, hüpft durch den Raum und fordert jeden Erwachsenen auf, sein Wissen auf die Probe zu stellen. „Autokennzeichen sind seine aktuelle Leidenschaft“, lächelt seine Mutter. Davor war Jonte von Vögeln und Hühnern fasziniert und kannte deren besondere Merkmale und Namen aus dem Effeff. Aber diese Liebe ist mittlerweile abgekühlt. Jetzt sind Autokennzeichen dran. „Äh, RD“, versucht es einer der Erzieher, woraufhin Jonte das Hüpfen spontan einstellt und ihn mit gerunzelter Stirn einige Sekunden ruhig anblickt. „Du weißt nicht, was RD ist?“, fragt er schließlich ungläubig und hüpft ohne ein weiteres Wort kopfschüttelnd weiter. Solch ein offener sozialer Umgang war für den Sechsjährigen vor knapp drei Jahren noch undenkbar. Bevor er in die KiTa Nortorf kam, hatte Jonte rund fünf Monate lang einen regulären Kindergarten besucht. „Dass das nicht das Richtige für ihn war, haben wir und auch die Erzieherinnen dort schnell gemerkt“, erinnert sich Mareike Horstmann. Jonte wollte nicht mit den anderen Kindern spielen, scheute den persönlichen Kontakt und zog sich immer mehr zurück. „Es war ihm schlicht alles zu viel. Er ist in der Gruppe dort einfach untergegangen“, erinnert sich seine Mutter.
In der KiTa Nortorf ist das mittlerweile ganz anders. „Wir arbeiten sehr individuell mit jedem einzelnen Kind“, sagt Diplom-Heilpädagogin Doris Kramer. „An unsere Alltagsabläufe zum Beispiel müssen sich die Kinder nicht alternativlos anpassen. Stattdessen achten wir sehr darauf, was jedes einzelne Kind braucht, und versuchen dann, die Rahmenbedingungen entsprechend zu gestalten. Interaktion, Kommunikation und gemeinsames Erleben sind dabei wichtige Bausteine.“
Neben dem täglichen Morgenkreis in den einzelnen Gruppen gibt es zum Beispiel an jedem Dienstagmorgen einen großen Sing- und Spielkreis, an dem alle Kinder teilnehmen, die können und wollen. Immer von 8 bis 9 Uhr ist die hauseigene Turnhalle für alle Kinder mit Bewegungsdrang geöffnet – zum Schaukeln, Klettern und Springen, Verstecken und Kicken. Gemeinsame Einkaufstouren finden ebenso regelmäßig statt wie Abstecher auf besondere Spielplätze in der Umgebung oder Ausflüge zum Schwimmen. Die Erwachsenen von morgen sollen möglichst viele neue Impulse erhalten, rausgehen und die Welt durch eigene Erfahrungen kennenlernen.
„Auch das Thema Essen ist ein wichtiger Baustein in unserem Gesamtkonzept“, sagt Doris Kramer. Dazu gehört unter anderem, dass das Mittagessen täglich in der hauseigenen Küche frisch gekocht wird, dass niemand sein eigenes Frühstück mitbringt und dass auch die Kinder mithelfen, die gemeinsamen Mahlzeiten vor- und zuzubereiten: Obst und Gemüse schnippeln, Brote schmieren, Teller, Besteck und Gläser verteilen. „Das gemeinsame Essen ist nicht nur eine soziale Lernsituation, sondern auch eine wichtige Schulung der Wahrnehmung“, sagt Doris Kramer.
Darüber hinaus werden den Kindern in ihren Gruppen im Tagesverlauf immer wieder abwechslungsreiche Angebote gemacht. Damit das Ganze geordnet und konzentriert ablaufen kann, machen dabei meist nicht alle gleichzeitig mit, sondern es werden Kleingruppen gebildet: Die tuschen, malen oder basteln dann gemeinsam, gucken Bilderbücher an oder gehen raus an die frische Luft. Einige der Kinder mit Förderbedarf nehmen tagsüber auch Therapietermine wahr, für die dann Spezialisten aus den Bereichen Physiotherapie und Logopädie ins Haus kommen.
Auch Jonte erhält hier regelmäßige logopädische und physiotherapeutische Behandlung. „Privat kommt bei uns dann noch die Ergotherapie dazu“, sagt seine Mutter. Diese therapeutischen Maßnahmen wie auch die heilpädagogische Förderung auf dem Integrationsplatz laufen unter dem Sammelbegriff „Frühförderung“. Das heißt, sie sind auch präventiv und sollen ermöglichen, dass Jonte trotz seiner Beeinträchtigungen an den regelhaften Bildungsangeboten teilhaben kann. Bis die entsprechende Kostenübernahme von der Eingliederungshilfe bewilligt war, mussten Jontes Eltern allerdings einen langen, zähen und manchmal zermürbenden Weg gehen, bei dem sie von den Pädagogen und Pädagoginnen der KiTa Nortorf nach Kräften unterstützt wurden.
„Im ersten Schritt ging es erst einmal ganz grundsätzlich darum, zu erkennen, was das eigene Kind braucht“, erinnert sich Mareike Horstmann. Ein Problem dabei: Bei so jungen Kindern können in der Regel noch keine ausdifferenzierten Diagnosen gestellt werden. Häufig stehen Eltern dann vor der Aufgabe, einem Mitarbeitenden des Sozialamts belegen zu müssen, warum sie für ihr Kind zwar nur eine diffuse Diagnose vorweisen können, es aber genau diesen Förderbedarf hat und genau diese konkrete Leistung braucht. „Ich kann allen betroffenen Eltern nur empfehlen: Besuchen Sie so viele Ärzte, wie es geht, und lassen Sie Gutachten erstellen“, sagt Mareike Horstmann. Der Weg war zwar hart und emotional belastend, hat sich aber gelohnt. Denn bei Jonte ist der Erfolg mittlerweile deutlich sichtbar. „Man konnte buchstäblich dabei zusehen, wie Jonte Schritt für Schritt aufgeblüht ist“, freut sich Mareike Horstmann.
„Seine Möglichkeiten im sozialen Kontakt haben sich wirklich toll entwickelt. An guten Tagen spielt er gemeinsam mit anderen Kindern und er hat sogar eine Freundin, die uns heute noch zu Hause besucht. An so etwas war früher gar nicht zu denken.“ Noch ein Aspekt scheint sich positiv auf Jontes Entwicklung auszuwirken: der auffällig hohe Männeranteil unter den Mitarbeitenden der KiTa Nortorf. Doris Kramer nickt entschieden: „Jungen brauchen männliche Identifikationsfiguren, die ihnen Verhaltensmuster und Orientierung bieten.“ Darüber hinaus brächten die jungen Männer eine andere Art und Weise der Körperlichkeit und Bewegung mit, die über das klassische Toben hinausgehe. „Das ist nicht nur für die Jungen bereichernd, sondern für alle Kinder, und gehört zu einem positiven Aufwachsen.“ Eine Männerquote gebe es in der KiTa allerdings nicht, erklärt Einrichtungsleiterin Christiane Kurka auf Nachfrage. Man habe einfach über viele Jahre mit Zivildienstleistenden gearbeitet, denen die spezielle Elementararbeit so gefallen habe, dass sie nach ihrer abgeschlossenen pädagogischen Ausbildung zurückgekehrt seien.
Aktuell beschäftigt die KiTa Nortorf einen Heilerziehungspfleger, drei Erzieher, einen Sozialpädagogischen Assistenten und mehrere männliche Angestellte im Erziehungsdienst, die zusätzliche Ausbildungen absolvieren und tageweise in der Kita arbeiten. Darüber hinaus absolvieren hier auch nach wie vor junge Männer ihr Freiwilliges Soziales Jahr. „In diesem Bereich sind wir übrigens immer auf der Suche nach Unterstützung mit Persönlichkeit und dem Willen, sich mit den Kindern auseinanderzusetzen“, ergänzt die Einrichtungsleiterin. „Falls sich jemand dadurch angesprochen fühlt, kann er sich gerne bei uns melden.“